Auch angesichts der COVID-19 Pandemie sind wir nicht alle gleich. Bei älteren Menschen bzw. Menschen mit Vorerkrankungen kann eine Infektion zu einem schwereren oder gar tödlichen Verlauf führen, wie die traurigen Zahlen jeden Tag weltweit eindrucksvoll zeigen. Auch stellt sich – ganz langsam zwar – das Bewusstsein ein, dass (meist) unterbezahlte „typische Frauenberufe“, wie in der Pflege oder im Supermarkt, den Laden überwiegend am Laufen halten, also systemrelevant sind und ihre Miete nicht nur durch freundlichen Applaus bezahlen können.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass der Krankheitsverlauf bei Männern und Frauen unterschiedlich ist, dass laut aktueller Statistiken überwiegend Männer an diesem Virus versterben. Verfügen Männer folglich über ein schwächeres Immunsystem oder leben Frauen einfach gesünder? Ein gendermedizinischer Blick scheint geboten, um ergebnisoffen gleich zu Beginn der Erforschung neuer Erkrankungen wie COVID-19 den Einfluss biologischer Geschlechterunterschiede und soziokultureller Gegebenheiten zu berücksichtigen, die gewonnenen Erkenntnisse für die Entwicklung neuer Medikamente nutzbar zu machen und keine wertvolle Zeit zu verlieren.
Statt des gewohnten Editorials lesen Sie hier das Interview mit Dr. med. Ute Seeland (Gendermedizinerin | DGesGM).
KongressBrief GenderGesundheit (KBGG): Männer scheinen häufiger von einem schwereren, ja tödlichen Verlauf einer Infektion durch COVID-19 betroffen zu sein. Wie beurteilen Sie solche Statistiken?
Dr. Ute Seeland: Erste Daten aus dem Versorgungsalltag zeigen, dass Männer mit COVID-19 Infektionen häufiger von einem schweren und oft tödlichen Verlauf betroffen sind als Frauen. Solche Darstellungen sind natürlich nicht falsch, können aber den Blick einengen und den Sachverhalt zu einfach darstellen.
Sehen wir uns die Darstellung der National Records of Scotland (NRS) an, die die Anzahl der mit dem Coronavirus in Verbindung gebrachten Todesfälle zwischen dem 16. März und dem 5. April 2020 zeigt, dann sehen wir, dass ab einem Lebensalter von 85 Jahren mehr Frauen als Männer versterben. Das ist schon interessant.
Auf der Seite des Robert Koch-Instituts (RKI) zeigt sich für Deutschland, dass sich der Geschlechterunterschied erst ab einem Alter von 90 Jahren aufhebt, allerdings wurde hier eine andere Alterseinteilung auf der X-Achse gewählt. Aufgabe der Gendermedizinier*innen ist es z.B. weitere epidemiologische Kennzahlen zu berücksichtigen, wie z.B. die längere Lebenserwartung von Frauen, die Vorerkrankungen und medikamentöse Therapien bei beiden Geschlechtern, den Zugang zum Gesundheitssystem usw..
KBGG: Wie könnten aus gendermedizinischer Sicht Statistiken genauer dargestellt werden?
Dr. Ute Seeland: Bleiben wir bei den Balkendiagrammen. Nach welchen Kriterien die Altersstrata auf der X-Achse gewählt werden, kann z.B. von der zu beantwortenden Fragestellung bzw. Hypothese abhängen. Möchte ich einen ersten Eindruck bekommen, ob die Todesfälle oder die Zahl der Infizierten mit Phasen biologischer Veränderungen in Verbindung stehen, z.B. bei größeren Hormonschwankungen, dann wären folgende Einteilungen denkbar: 30-49, 50-69, 70-89 und ab 90. Hier wäre z.B. der Zeitpunkt vor der Menopause, die Perimenopause und danach berücksichtigt.
KBGG: Verfügen wir denn über Daten, die eine geschlechtersensible Auswertung erlauben? Oder anders gefragt, werden die erforderlichen Daten in Studien überhaupt entsprechend erhoben?
Dr. Ute Seeland: Das ist oft nicht der Fall und wertvolle Informationen können verloren gehen. Ich sehe zwei Gründe dafür. Erstens wird von den meisten Forschenden bei der Studien- und Registerplanung nicht an die Erhebung und Auswertung nach dem Geschlecht gedacht und zweitens führen diese zusätzlichen Daten zu einer Verlängerung des Fragebogens, was immer ein kritischer Punkt ist.
Hier einen Mittelweg zu finden, ist das Ziel und gar nicht so schwierig, wenn die Geschlechterunterschiede in den formulierten Hypothesen gleich zu Beginn der Studie verankert sind. Bei großen Registern, die nun für COVID-19 auf nationaler und europäischer Ebene koordiniert werden, ist das Einbinden der Expertise von Gendermediziner*innen besonders wichtig, um nicht wertvolle Zeit zu verlieren und zu riskieren, durch gegenläufige Effekte bei den Geschlechtern die Unterschiede statistisch zu maskieren.
KBGG: Wo sehen Sie das größte Risiko, wenn diese Unterschiede nicht oder nicht ausreichend berücksichtigt werden?
Dr. Ute Seeland: Aus der Vergangenheit wissen wir, dass Wirksamkeit und Nebenwirkungsprofil von Medikamenten sehr unterschiedlich sein können bei Frauen und Männern. Das fällt dann oft erst spät in der Versorgungsforschung auf. Bei COVID-19 sollten wir uns nicht leisten, Zeit, Geld und Ressourcen zu verschwenden, sondern besser vom ersten Zellexperiment an die Daten getrennt nach den Geschlechtern erheben und auswerten.
KBGG: Ist das weibliche Immunsystem besser gerüstet oder liegt es an einer im Schnitt gesünderen Lebensweise?
Dr. Ute Seeland: Bei der Erforschung der Geschlechterunterschiede haben wir sowohl biologische als auch soziokulturelle Unterschiede der Geschlechter im Blick. Das macht das Fach der Gendermedizin so spannend.
Ich sehe zur Zeit wesentliche Forschungsansätze, die sich auf den Geschlechterdimorphismus bei den Enzymen und Rezeptoren beziehen, die wahrscheinlich an der Replikation des SARS-CoV-2 beteiligt sind, als auch bei den an der Immunabwehr beteiligten Interleukinen. Wenn wir davon ausgehen, dass ACE-2 einen Rezeptor für verschiedene Coronaviren ist, einschließlich SARS-CoV-2, und dass das Virus diesen Rezeptor braucht, um sich zu vermehren und in Zellen zu gelangen, fällt mir auf, dass ACE-2 auf dem X-Chromosom lokalisiert ist.
Eine interessante Ausgangslage, die Geschlechterutnerschiede bedingen kann. Auch wenn das zweite X-Chromosom in der weiblichen Zelle größtenteils funktionell nicht aktiv ist, so entgehen diesem Prozess doch ca. 15% der Gene. Zusätzlich wird ACE-2 auch durch endogenes Estradiol, dem weiblichen Sexualhormon, reguliert, so dass auch möglicherweise Unterschiede bei prä- und postmenopausalen Frauen bei der SARS-CoV-2 Infektion nachgewiesen werden können.
Theoretisch könnte es also sein, dass das Virus mehr Rezeptoren bei Frauen vor der Menopause findet, die dann eine größere Viruslast aufweisen. Das bedeutet nicht unbedingt, dass die Frauen häufiger Symptome zeigen, sondern dass sie möglicherweise eine größere Anzahl von Viren übertragen könnten im Vergleich zu den gleichaltrigen Männern. Ob das so ist, muss erst noch untersucht werden.
Zumindest zeigt die Grafik zur Darstellung der übermittelten COVID-19/Fälle pro 100.000 Einwohner in Deutschland auf der Seite des RKI, dass in der Alterspanne zwischen 15 und 34 Jahren der Anteil der Frauen, die sich infiziert haben, etwas höher ist als der der Männer.
Erst am Ende der Pandemiewelle und einem möglichst großen Datensatz wird man sehen, ob dieser Trend so bleibt.
Neben den biologischen Unterschieden, spielen die soziokulturellen bei der Pandemie sicherlich eine ähnlich große Rolle. Anders sind die großen Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern kaum zu erklären. Soziale Missstände und Defizite im Gesundheitswesen werden durch die Virusinfektion sichtbar.
KBGG: Inwieweit lässt sich ein unterschiedlicher Krankheitsverlauf beobachten, unter Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Unterschiede in der Immunabwehr?
Dr. Ute Seeland: Bei den meisten Menschen bleibt es bei der Virusvermehrung im Rachen. Nur bei ca 2 % der Infizierten kommt es zu einer ungewöhnlichen Entzündung in der Lunge nach ca. einer Woche nach Infektionsbeginn. Das ist der Zeitpunkt an dem das Immunsystem aktiv wird.
Von rheumatologischen Studien weiß man, dass das Immunsystem von Frauen und Männern in Abhängigkeit der Sexulahormone unterschiedlich aktiv sein kann. Mir fällt z.B. die Produktion von Interleukin-6 ein, das der Körper u.a. bei der Immunabwehr braucht.
Östrogen hemmt die Produktion eher und Testosteron steigert diese. Die Reaktion des Immunsystems ist entscheidend für die Ausprägung der Symptome, so dass es durchaus zu einer etwas unterschiedlichen Symptomatik kommen kann bei COVID-19 Erkrankten abhängig vom Hormonstatus. Möglicherweise wäre das einer von mehreren Erklärungsansätzen für die stärkeren Symptome bei Männern und – so die Vermutung – auch bei postmenopausalen Frauen im Vergleich zu jüngeren Frauen.